Vor 300 Jahren – am 24. Juli 1725 – wurde John Newton geboren. Der frühere Sklavenhändler und spätere Pfarrer schrieb mit „Amazing Grace“ eines der bekanntesten geistlichen Lieder weltweit. Sein Leben steht für Umkehr und Gnade. Roland Deines erinnert an ihn.
Eine folgenreiche Begegnung
Der Vater, ein frommer und strenger Mann, war als Kapitän der englischen Handelsflotte nur selten zu Hause. So war er auch auf See, als die Mutter des noch nicht siebenjährigen John am 11. Juli 1732 im Alter von 27 Jahren an Tuberkulose starb. Erst ein halbes Jahr später kehrte der Vater zurück. Die Mutter hatte ihren frühen Tod geahnt und darum ihre ganze Kraft der christlichen Erziehung ihres einzigen Kindes gewidmet. Mit vier konnte John lesen und lernte – mit einem guten Gedächtnis ausgestattet – früh den „Kleinen Westminster Katechismus“ von 1647 auswendig, dazu zahlreiche Lieder und große Teile der Bibel. Der Vater heiratete erneut und schickte den Sohn aus erster Ehe in ein Internat. Die Schulzeit endete jedoch, als er zehn Jahre alt war: Sein Vater nahm ihn mit auf See und sorgte dafür, dass er eine gediegene Ausbildung als Seemann bekam. Vater und Sohn fanden jedoch keinen Zugang zueinander. Doch half der Vater immer wieder, wenn John in Schwierigkeiten steckte (und davon gab es eine ganze Menge).
Zum Schicksal wurde dem 17-jährigen John eine Begegnung bei einem Verwandtenbesuch. Eigentlich hätte er eine Stelle in Jamaika antreten sollen, aber er verliebte sich und verzögerte seinen Aufenthalt so lange, bis das Schiff, das ihn nach Jamaika bringen sollte, ohne ihn ausgelaufen war. Anfang 1744 fiel der junge Seemann bei einem Landgang – einzig unternommen, um seiner heimlichen Liebe nahe zu sein – einer sogenannten „Press Gang“ der englischen Marine in die Hände. Sie hatten das Recht, zwangsweise Männer als Matrosen für die englischen Kriegsschiffe zu rekrutieren. Damit begann eine Zeit auf See, die Newton vom Glauben, den seine Mutter in ihn gesät hatte, nicht nur abbrachte, sondern ihn auch zum öffentlichen Spötter machte.
Er wird wegen Desertation (erneut: um seine heimliche Liebe zu sehen) ausgepeitscht und von der Royal Navy an ein Handelsschiff abgegeben, das im Sklavenhandel an der Westküste Afrikas tätig war. Newton war selbst in diesem Geschäft aktiv beteiligt, bevor er wegen eines Streits selbst zum Sklaven wurde. Er kam jedoch auf wundersame Weise frei, weil sein Vater einen befreundeten Kapitän nach ihm suchen ließ. Die „Greyhound“, so hieß das Schiff, hatte noch eine lange Fahrt vor sich, als Newton an Bord ging. Auch hier brachte er durch sein gottloses Wesen Kapitän und Mannschaft gegen sich auf. Am frühen Morgen des 10. März 1748 geriet die Greyhound auf dem Atlantik in einen schweren Sturm, das Schiff schlug leck und nahm Wasser auf.
„Welche Gnade kann es für mich geben?“
Verzweifelt kämpfte die Mannschaft gegen den drohenden Untergang an. Der Kapitän und die Mannschaft machten Newton für das Unglück verantwortlich. Sie sahen in ihm einen zweiten Jona, der Gott herausgefordert hatte. Angesichts des drohenden Todes stellte der 22-Jährige sich und Gott die Frage: „What mercy can there be for me?“ (Welche Gnade kann es für mich geben?) Dass er keinerlei Anspruch auf „mercy“ hatte, das war ihm bewusst. Aber nun kam all das, was ihn seine Mutter über den Glauben gelehrt hatte, plötzlich wieder zurück. Er erinnerte sich an die Worte der Gnade, die er als Kind auswendig gelernt hatte, während um ihn herum der Sturm tobte und er im eiskalten Atlantik am Steuerruder stand. Newton klammerte sich an das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn. Die Hände des Vaters sind ausgestreckt. Am 8. April 1748 erreichte das Schiff die Küste Irlands. Newton hatte zurück zum Glauben gefunden, aber die Gnade Gottes hatte noch einen langen Weg mit ihm zu gehen. Denn erst jetzt wurde Newton selbst Kapitän eines Sklavenschiffes!
Zu fromm, zu methodistisch, zu evangelikal
Er brauchte Geld, um seine Jugendliebe heiraten zu können. Die übliche Route der Sklavenschiff e dauerte rund eineinhalb Jahre. Vier solcher Reisen machte er. Sein Glaube in dieser Zeit war ein ständiges Auf und Ab. Auch er benutzte die Sklavinnen während der langen Überfahrten zu seiner eigenen sexuellen Befriedigung. „A wretch like me“ (ein Schuft wie ich) ist in seinem bekanntesten Lied keine fromme Floskel, sondern ehrliches Bekenntnis. Dennoch: Immer wieder traf er auf diesen Reisen Christen, die ihm weiterhalfen.
1750 konnte er endlich seine Polly (die eigentlich Mary hieß) heiraten. Es wurde eine glückliche Ehe, die jedoch kinderlos blieb. Eigentlich wollte er Pfarrer in der englischen Kirche werden. Die notwendige theologische Bildung hatte er sich auf seinen Fahrten angeeignet. Doch die Kirche wollte ihn nicht. Er war ihr zu fromm, zu methodistisch, zu evangelikal. 1757 bewarb er sich erstmalig um die Ordination, wurde aber wiederholt abgewiesen. Erst 1764 – und damit sieben Jahre später – wurde er ordiniert. Er trat seine erste Stelle in Olney (Buckinghamshire) an, einem kleinen Marktstädtchen mit damals etwa 2.000 Einwohnern. Hier wirkte er bis 1779. In dieser Zeit erschien ein Buch über seine Zeit als Kapitän und seine Bekehrung. Es machte ihn zu einem der bekanntesten „Evangelikalen“ seiner Zeit. Es folgte die Berufung an die Kirche St. Mary Woolnoth in London, wo er bis zu seinem Lebensende wirkte.
Sein Kampf gegen die Sklaverei fällt erst in die Londoner Zeit: In Olney hatte er den damals noch ganz jungen William Wilberforce (1759–1833) kennengelernt, der bei einer Tante aufwuchs, die die Newtons regelmäßig in Olney besuchte. Wilberforce war seit 1780 Mitglied im englischen Parlament. Er hatte sich, ähnlich wie Newton, als Heranwachsender vom Glauben seiner Kindheit entfernt und genoss ein ausschweifendes Leben in der „besseren“ Gesellschaft. Aber auch diesen Sünder holte Gott ein: 1785 erlebte Wilberforce eine Bekehrung und suchte den Rat des alten Bekannten seiner Kindheit – John Newton, der diese ganzen Jahre hindurch für ihn gebetet hatte. Ab 1787 begann dann der gemeinsame Kampf gegen die Sklaverei.
Wie das Lied entstand
John Newton hat viele Lieder geschrieben. Amazing Grace ist das mit Abstand bekannteste. Es entstand im Dezember 1772 bei der Vorbereitung für die Neujahrspredigt. Der Predigttext, der ihn dazu inspirierte, war 1. Chronik 17,16–17. Es ist der Rückblick Davids auf sein Leben, nachdem Gott ihm verweigert hatte, den Tempel zu bauen. Stattdessen erinnert Gott David durch den Propheten Nathan daran, was er ihm anvertraute und gelingen ließ. Dazu erhält David das Versprechen, dass sein Sohn den Tempel bauen wird und einer seiner Nachkommen auf einem ewigen Thron sitzen werde. Angesichts dieser Verheißungen bedenkt David sein Leben vor Gott und stellt sich die Frage: „Wer bin ich, und was ist mein Haus, dass du mich bis hierher gebracht hast?“ Die Antwort ist: Amazing grace. Erstaunliche Gnade.
Roland Deines
ist Prorektor und Professor für Biblische Theologie und Antikes Judentum an der Internationalen Hochschule Liebenzell.
Ein Mensch, der unerwartet und unverdient Gnade findet. Das ist die Geschichte von John Newton (1725–1807), der seine Lebenswende in dem Lied „Amazing Grace“ verarbeitete. Er wurde vor 300 Jahren am 24. Juli 1725 in London geboren. Seine Biografie und seine Lieder sind es wert, an sie zu erinnern. Sein Leben ist die Geschichte einer leidenschaftlichen Mutter, einer Vater-Sohn-Tragödie, die Elemente vom verlorenen Sohn enthält, aber kein Happy End in dieser Welt fand. Es ist die Geschichte eines Mannes, der um seiner Liebe willen zum Sklavenhändler wurde und wie Jona Gott den Rücken kehrte – bevor er mitten im Meer diesen Gott um Gnade bat. Er war Dorfpfarrer, Liederdichter, Aktivist gegen die Sklaverei und ist bis heute vor allem bekannt als Dichter eines Liedes, das zum Ohrwurm wurde: Amazing Grace.
Eine folgenreiche Begegnung
Der Vater, ein frommer und strenger Mann, war als Kapitän der englischen Handelsflotte nur selten zu Hause. So war er auch auf See, als die Mutter des noch nicht siebenjährigen John am 11. Juli 1732 im Alter von 27 Jahren an Tuberkulose starb. Erst ein halbes Jahr später kehrte der Vater zurück. Die Mutter hatte ihren frühen Tod geahnt und darum ihre ganze Kraft der christlichen Erziehung ihres einzigen Kindes gewidmet. Mit vier konnte John lesen und lernte – mit einem guten Gedächtnis ausgestattet – früh den „Kleinen Westminster Katechismus“ von 1647 auswendig, dazu zahlreiche Lieder und große Teile der Bibel. Der Vater heiratete erneut und schickte den Sohn aus erster Ehe in ein Internat. Die Schulzeit endete jedoch, als er zehn Jahre alt war: Sein Vater nahm ihn mit auf See und sorgte dafür, dass er eine gediegene Ausbildung als Seemann bekam. Vater und Sohn fanden jedoch keinen Zugang zueinander. Doch half der Vater immer wieder, wenn John in Schwierigkeiten steckte (und davon gab es eine ganze Menge).
Zum Schicksal wurde dem 17-jährigen John eine Begegnung bei einem Verwandtenbesuch. Eigentlich hätte er eine Stelle in Jamaika antreten sollen, aber er verliebte sich und verzögerte seinen Aufenthalt so lange, bis das Schiff, das ihn nach Jamaika bringen sollte, ohne ihn ausgelaufen war. Anfang 1744 fiel der junge Seemann bei einem Landgang – einzig unternommen, um seiner heimlichen Liebe nahe zu sein – einer sogenannten „Press Gang“ der englischen Marine in die Hände. Sie hatten das Recht, zwangsweise Männer als Matrosen für die englischen Kriegsschiffe zu rekrutieren. Damit begann eine Zeit auf See, die Newton vom Glauben, den seine Mutter in ihn gesät hatte, nicht nur abbrachte, sondern ihn auch zum öffentlichen Spötter machte.
Er wird wegen Desertation (erneut: um seine heimliche Liebe zu sehen) ausgepeitscht und von der Royal Navy an ein Handelsschiff abgegeben, das im Sklavenhandel an der Westküste Afrikas tätig war. Newton war selbst in diesem Geschäft aktiv beteiligt, bevor er wegen eines Streits selbst zum Sklaven wurde. Er kam jedoch auf wundersame Weise frei, weil sein Vater einen befreundeten Kapitän nach ihm suchen ließ. Die „Greyhound“, so hieß das Schiff, hatte noch eine lange Fahrt vor sich, als Newton an Bord ging. Auch hier brachte er durch sein gottloses Wesen Kapitän und Mannschaft gegen sich auf. Am frühen Morgen des 10. März 1748 geriet die Greyhound auf dem Atlantik in einen schweren Sturm, das Schiff schlug leck und nahm Wasser auf.
„Welche Gnade kann es für mich geben?“
Verzweifelt kämpfte die Mannschaft gegen den drohenden Untergang an. Der Kapitän und die Mannschaft machten Newton für das Unglück verantwortlich. Sie sahen in ihm einen zweiten Jona, der Gott herausgefordert hatte. Angesichts des drohenden Todes stellte der 22-Jährige sich und Gott die Frage: „What mercy can there be for me?“ (Welche Gnade kann es für mich geben?) Dass er keinerlei Anspruch auf „mercy“ hatte, das war ihm bewusst. Aber nun kam all das, was ihn seine Mutter über den Glauben gelehrt hatte, plötzlich wieder zurück. Er erinnerte sich an die Worte der Gnade, die er als Kind auswendig gelernt hatte, während um ihn herum der Sturm tobte und er im eiskalten Atlantik am Steuerruder stand. Newton klammerte sich an das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn. Die Hände des Vaters sind ausgestreckt. Am 8. April 1748 erreichte das Schiff die Küste Irlands. Newton hatte zurück zum Glauben gefunden, aber die Gnade Gottes hatte noch einen langen Weg mit ihm zu gehen. Denn erst jetzt wurde Newton selbst Kapitän eines Sklavenschiffes!
Zu fromm, zu methodistisch, zu evangelikal
Er brauchte Geld, um seine Jugendliebe heiraten zu können. Die übliche Route der Sklavenschiff e dauerte rund eineinhalb Jahre. Vier solcher Reisen machte er. Sein Glaube in dieser Zeit war ein ständiges Auf und Ab. Auch er benutzte die Sklavinnen während der langen Überfahrten zu seiner eigenen sexuellen Befriedigung. „A wretch like me“ (ein Schuft wie ich) ist in seinem bekanntesten Lied keine fromme Floskel, sondern ehrliches Bekenntnis. Dennoch: Immer wieder traf er auf diesen Reisen Christen, die ihm weiterhalfen.
1750 konnte er endlich seine Polly (die eigentlich Mary hieß) heiraten. Es wurde eine glückliche Ehe, die jedoch kinderlos blieb. Eigentlich wollte er Pfarrer in der englischen Kirche werden. Die notwendige theologische Bildung hatte er sich auf seinen Fahrten angeeignet. Doch die Kirche wollte ihn nicht. Er war ihr zu fromm, zu methodistisch, zu evangelikal. 1757 bewarb er sich erstmalig um die Ordination, wurde aber wiederholt abgewiesen. Erst 1764 – und damit sieben Jahre später – wurde er ordiniert. Er trat seine erste Stelle in Olney (Buckinghamshire) an, einem kleinen Marktstädtchen mit damals etwa 2.000 Einwohnern. Hier wirkte er bis 1779. In dieser Zeit erschien ein Buch über seine Zeit als Kapitän und seine Bekehrung. Es machte ihn zu einem der bekanntesten „Evangelikalen“ seiner Zeit. Es folgte die Berufung an die Kirche St. Mary Woolnoth in London, wo er bis zu seinem Lebensende wirkte.
Sein Kampf gegen die Sklaverei fällt erst in die Londoner Zeit: In Olney hatte er den damals noch ganz jungen William Wilberforce (1759–1833) kennengelernt, der bei einer Tante aufwuchs, die die Newtons regelmäßig in Olney besuchte. Wilberforce war seit 1780 Mitglied im englischen Parlament. Er hatte sich, ähnlich wie Newton, als Heranwachsender vom Glauben seiner Kindheit entfernt und genoss ein ausschweifendes Leben in der „besseren“ Gesellschaft. Aber auch diesen Sünder holte Gott ein: 1785 erlebte Wilberforce eine Bekehrung und suchte den Rat des alten Bekannten seiner Kindheit – John Newton, der diese ganzen Jahre hindurch für ihn gebetet hatte. Ab 1787 begann dann der gemeinsame Kampf gegen die Sklaverei.
Wie das Lied entstand
John Newton hat viele Lieder geschrieben. Amazing Grace ist das mit Abstand bekannteste. Es entstand im Dezember 1772 bei der Vorbereitung für die Neujahrspredigt. Der Predigttext, der ihn dazu inspirierte, war 1. Chronik 17,16–17. Es ist der Rückblick Davids auf sein Leben, nachdem Gott ihm verweigert hatte, den Tempel zu bauen. Stattdessen erinnert Gott David durch den Propheten Nathan daran, was er ihm anvertraute und gelingen ließ. Dazu erhält David das Versprechen, dass sein Sohn den Tempel bauen wird und einer seiner Nachkommen auf einem ewigen Thron sitzen werde. Angesichts dieser Verheißungen bedenkt David sein Leben vor Gott und stellt sich die Frage: „Wer bin ich, und was ist mein Haus, dass du mich bis hierher gebracht hast?“ Die Antwort ist: Amazing grace. Erstaunliche Gnade.
Roland Deines
ist Prorektor und Professor für Biblische Theologie und Antikes Judentum an der Internationalen Hochschule Liebenzell.